Ich versuche mich auf jeden Menschen einzustellen

Deutschland, Bayern, Reichenwies,
@ Carla Margraf

Als er uns 2007  zum ersten Mal in der Agentur besuchte, war er uns allen sofort sympathisch. Thomas Degen (60), der bei uns unter dem Pseudonym „Tom Chance“ Bilder  vertreibt, ist ein Mensch mit Humor und Bodenhaftung. Er ist schon sehr lange im Geschäft und hat viele Trends kommen und gehen sehen. Ein alter Hase, der sein Handwerk perfekt beherrscht und dessen Bildsprache zu jeder Zeit modern ist.
Wie ihm seine Erfahrungen bei Stockfotografie helfen, warum er kaum mehr in der Modefotgrafie unterwegs ist und inwiefern es experimentelle Fotografie schon vor den Smartphone-Apps gab, darüber haben wir mit ihm gesprochen.

Lieber Thomas, du warst lange Zeit Modefotograf. Hilft dir diese Erfahrung bei der Stockfotografie?
Ja, natürlich. Als Modefotograf muss man die Models so attraktiv wie möglich abbilden und ein Team bei Laune halten. Dafür braucht man gutes Licht und gute Stimmung am Set. Meistens hat man ein Team von fünf bis zehn Personen dabei und die sollten sich alle gut fühlen, sonst bekommt man keine guten Ergebnisse.

Ich war einmal bei einem Shooting dabei und es ging um eine Szene, bei der das wunderschöne weibliche Model schauspielern sollte. Freude und Jubel waren verlangt. Es klappte nicht und sie meinte, Sie könne das nicht. Sie war kein typisches Stockmodel, normalerweise wurde sie für Fashion-Shoots gebucht. Bei Fashion-Shoots haben die Models ja oft eine eher unterkühlte Ausstrahlung, in der Stockfotografie sollen sie wie der sympathische, gut aussehende Mensch von nebenan aussehen. War das für dich eine Umstellung, als du mit der Stockfotografie angefangen hast?
Die größte Umstellung war, dass ein Bild mehr aussagen muss als „ich bin schön, mein Kleid ist schön“. Das mit der unterkühlten Ausstrahlung trifft nur bedingt zu. Viele Modekunden, egal ob Zeitschriften oder Werbung, verlangen ausdrücklich lachende, strahlende Models. Es gibt aber tatsächlich Models, deren Ausdrucksmöglichkeiten sich darauf beschränken, schön zu schauen bzw. das, was sie darunter verstehen. Schwieriger wird es, wenn man „negative“ Emotionen wie Enttäuschung, Traurigkeit, Überraschung oder Wut ausdrücken will. Das erfordert tatsächlich mehr schauspielerisches Talent.

© Thomas Degen aka Tom Chance/Westend61
© Thomas Degen aka Tom Chance/Westend61

Wie bist du zur Stockfotografie gekommen?
Vor ungefähr 15 Jahren begannen einige Zeitschriften, für die ich damals arbeitete, immer häufiger Bilder von Getty Images für Lifestyle-Themen zu verwenden. Die moderne Bildsprache unterschied sich deutlich vom bis dahin üblichen, meist recht langweiligen Stockfoto-Look. Dazu kam die Neuerung, dass man Bilder auf den Websites der Bildagenturen per Suchmaske selbständig finden konnte. Bildredakteure mussten der Agentur das gewünschte Motiv nicht mehr beschreiben und sich als Dias per Kurier oder Post zuschicken lassen. Mir wurde schnell klar, dass diesem Konzept die Zukunft gehörte. Bei mir dauerte es aber noch ein paar Jahre, bis ich mit Westend61 die für mich passende Agentur fand.

Was gefällt dir an der Stockfotografie? Ist es die Freiheit, dein eigener Art Director zu sein?
Ja, aber das ist nicht der einzige Grund. Ich genieße es, ohne Kunden am Set und ohne Abgabetermin arbeiten zu können. Oft produziere ich auch ergebnisoffen, ohne den Druck ein ganz bestimmtes Bild machen zu müssen. Bei Auftragsarbeiten, besonders in der Werbung, gibt es manchmal schon vor der Produktion ein genaues Layout, in das ein Bild passen muss. Gerade in der Modefotografie gibt es auch häufig die Situation, dass die Kollektion zu spät fertig wird und die Fotos am besten gestern geliefert werden sollten. Das Model Booking ist ab einem bestimmten Level eine eigene Kunst, es gibt ein Feilschen um gute erste und schlechte zweite Optionen, Honorare, Buyouts. Das oft innerhalb weniger Stunden, ähnlich dem Parketthandel an der Börse, telefonisch, mündlich, ohne Vertrag. Das gesprochene Wort gilt. Weitere Unwägbarkeiten sind Wetteroptionen, Models, die aus London, Mailand oder Paris einfliegen sollen, aber durch Nebel oder Streiks aufgehalten werden. Genau dieser Nervenkitzel hat mir einige Jahre sehr viel Spaß gemacht.

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© Thomas Degen aka Tom Chance/Westend61

Mittlerweile bin ich echt froh, dass ich nicht mehr so arbeiten muss. Es ist ein ganz anderes Lebensgefühl, wenn man selbständiger Autor ist und nicht Auftragsfotograf.

Du hast dann die Modefotografie aufgegeben. Ganz und gar?
Das war keine bewusste Entscheidung, das hat sich ganz allmählich so entwickelt. Es war eher so, dass die freie Arbeit für Bildagenturen angenehmer ist als Auftragsfotografie. Das mache ich nur noch, wenn mir das Konzept gefällt oder ich völlig freie Hand habe. Ab und zu finden sich solche Kunden, aber das ist die Ausnahme.

Du arbeitest ja nicht nur mit Profimodels, sondern auch mit Laien. Wie merkst du, ob jemand passt, wann sprichst du jemanden an? Meines Erachtens ist das ja nicht ganz einfach und du hast doch immer wieder ein glückliches Händchen.
Auch da helfen mir meine Erfahrungen aus der Modefotografie. Man bekommt mit der Zeit einen Blick für gute Gesichter. Ich habe auch als Modefotograf immer wieder mit Laien-Models gearbeitet, vor allem für Zeitschriften, wenn besondere Gesichter und nicht glatte Schönheit gefragt waren. In den 80ern habe ich mit Franca Sozzani, der heutigen Vogue Italia Chefin, für die Zeitschriften „Vogue per lui“ auf ihren Wunsch nur mit Laien gearbeitet, ebenso für die in Modekreisen legendäre Anna Piaggi und „Vanity Fair Italia“. Und natürlich für „i-D magazine“ in London, das anfangs ein reines „street fashion“ Magazin war.

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i-D Cover von 1981 mit einem Titelbild von Thomas Degen

Noch eine Frage zu den Laienmodellen. Wir hatten dir erzählt, dass small business ein gutes Thema ist. Schnell hast du wirklich beeindruckende Bilder von kleinen Handwerkern eingeliefert, die oft in Berufen arbeiten, die vielleicht bald aussterben werden. Du scheinst keine Scheu zu haben, auf Menschen zuzugehen und bildest oft wirklich die Seele der Menschen ab, die du fotografierst. Würdest du das so wie ich auch als dein besonderes Talent sehen?
Danke, das ist ein sehr schönes Kompliment. So habe ich das noch nie gesehen. Ich versuche mich auf jeden Menschen einzustellen und eine gemeinsame Ebene zu finden. Auf meinen Reisen habe ich auch viel gelernt über den Umgang mit Menschen aus allen möglichen Kulturkreisen. Meine Ausstrahlung soll signalisieren „Ich bin völlig harmlos. Ich tue dir nichts und nehme dir nichts weg. Ich sehe dich als Mitgeschöpf und interessiere mich für dich und dein Leben. Danke, dass du deine Zeit mit mir teilst. Ich habe es nicht eilig.“ Früher war ich sehr schüchtern, aber man muss sich da einfach nur selbst einen kleinen Schubs geben. Fragen kostet nichts und außer einer Absage kann doch nichts passieren. Fotografie ist ein sehr angenehmer Grund, um auf fremde Menschen zuzugehen. Ich mache ein Angebot, von dem beide etwas haben.

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© Thomas Degen aka Tom Chance/Westend61
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© Thomas Degen aka Tom Chance/Westend61

Als wir die SMART Collection eingeführt haben, haben wir uns einmal kurz darüber unterhalten und du meintest, diese experimentelle Fotografie sei toll. Das erinnert dich an frühere Zeiten, als viel mit Film experimentiert wurde. Den jüngeren Lesern sagt das sicher nicht mehr so viel. Erzähle uns mal ein bisschen von früher und den Experimenten.
Die meisten Kunden wollten Diapositive. In den frühen 80ern erschienen Zeitschriften wie „Wiener“, „Max“ oder „Tempo“ auf dem deutschen Markt, die unter anderem durch eine neue Bildsprache auf sich aufmerksam machten. Ich habe damals viel mit sehr buntem Licht und „cross-processing“ gearbeitet. Dabei wird ein Diafilm wie ein Farbnegativfilm entwickelt oder umgekehrt. Einen Diafilm um bis zu zwei Blenden unterzubelichten und dann länger zu entwickeln mochte ich auch sehr gerne. Das war die einzige Möglichkeit, höheren Kontrast und sattere Farben zu bekommen. Dann gab es eine Weile Polapan und Polachrome, das waren Sofortbild-Diafilme, die man zusammen mit einer Entwicklerpatrone kaufte und in einem handlichen Gerät, wahlweise elektrisch oder manuell, entwickeln konnte. Das war extrem heikles Zelluloid und beide vom chemischen Aufbau völlig verschieden. Heute könnte man das vergleichen mit einer neuen Software, die erst ein paar hundert Leute weltweit haben und bedienen können. Aber die Software „Polapan mit Metallspitze zerkratzen“ wird es wahrscheinlich nie geben. Insofern bleibt es für seine Zeit typisch.

Du hast mir ein paar experimentelle Selbstportraits geschickt, die zwischen 1976 und 1991 entstanden sind geschickt, die ich wirklich großartig finde. Erzähle uns doch ein bisschen was zur Entstehung der Bilder.
Das Dia-Sandwich entstand 1976 auf meiner ersten großen Reise in Herat, Afghanistan. Zusammen mit einem Freund hatte ich eine Autoüberführung in den Iran gemacht und anschließend reisten wir per Bus und Bahn bis nach Indien. Bei der Sandwich-Technik legt man einfach zwei Dias übereinander und rahmt sie dann.
Das Farbnegativ von 1977 habe ich einfach als Dia genutzt. Das Bild habe ich mit dem Licht meiner Schreibtischlampe gemacht.

© Thomas Degen privat
© Thomas Degen privat

Bei dem Selbstportrait von 1978 habe ich einen Frauenmund aus einer Zeitschrift ausgeschnitten und für das Foto durch Luft ansaugen an meinem Mund festgehalten.
1979 fand ich in der Textilabteilung eines Stuttgarter Kaufhauses das Angebot, innerhalb weniger Minuten ein T-Shirt mit dem eigenen Bild machen zu können. Ich weiß leider nicht mehr, wie das Verfahren hieß. Es gab auch Leute, die solche Bilder von Hand mit einer Schreibmaschine getippt haben.
1982 wurde ich beim Betreten der Moderedaktion der Zeitschrift „freundin“ mit einer SX-70 Polaroidkamera fotografiert. Die SX-70 war damals weit verbreitet und wurde oft bei Castings benutzt.
Die Röntgenaufnahme meines Schädels von 1983 wurde gemacht, nachdem ich bei einem Rugby-Spiel durch einen Schlag mit der Ferse an mein Kinn kurz ohnmächtig war.
1985 habe ich mich für eine französische Wäschefirma auf Polapan-SW-Sofortbild-Diafilm fotografiert und dann den Namen der Firma in die beschichtete Seite des Films gekratzt. Die Fotos wurden für eine Ausstellung auf einem Hausboot auf der Seine in Paris an Wäscheleinen aufgehängt.
Das Portrait von 1991 wurde auf Dia-Film fotografiert und als Fotokopie ausgedruckt. Den Kopf habe ich mit einer Schere ausgeschnitten und auf gelbes Tonpapier geklebt.

Wenn ich mir die Bilder so ansehe, empfinde ich sie zum Teil als sehr modern. sie bedienen Sehgewohnheiten der letzten Jahre. Ich bin viel auf Instagram unterwegs und sehe da Unmengen an experimentellen Bildern. Heute halt nicht mit analogem Filmmaterial und im Labor, sondern mit Smartphones und Bildbearbeitungsapps hergestellt. Du hast ja jetzt mehrere Generationen Fotografie erlebt. Hast du das Gefühl, alles wiederholt sich immer wieder? Trends von heute sind Trends von gestern so wie in der Mode.
Vieles wiederholt sich immer wieder. Manche Techniken bleiben einzigartig, weil es das verwendete Material irgendwann nicht mehr gibt. Die App, die das Zerkratzen eines Zelluloidfilms nachahmt, wird es wahrscheinlich nicht geben. Jedes Material hat seine eigenen Möglichkeiten. Beschichtete Glasplatten, Zelluloid, Polaroid, Digital. Mal sehen, was als nächstes kommt.

Fotografierst du mit dem Smartphone?
Sehr selten. Beim Fotografieren schaue ich nach wie vor am liebsten durch einen Sucher einer Spiegelreflexkamera. Da sehe ich das am besten, worum es mir meistens geht.

Du bist ja jetzt schon ein paar Jahre dabei. Eine deiner ersten Bildserien bei uns aus dem Jahre 2007 war eine Freistellerserie mit einem sehr guten Model. Davon verkaufen wir bis heute Bilder. Aber es hat sich sehr viel getan. Seit etwa drei Jahren sind authentische Bilder Trend, Emotionen und Umgebung der Models sollen möglich echt wirken. Wie ist das für dich? Begrüßt du diesen Wandel?
Auf jeden Fall. Es freut mich sehr, dass Illusionen und geschönte Realitäten von den Menschen immer weniger geglaubt werden. Aber zum Anfang deiner Frage: Das war nicht eine meiner ersten, sondern das war tatsächlich meine allererste Produktion mit Model für euch. Da haben Westend61 und ich richtig Glück gehabt. Keine andere mir bekannte Agentur hätte zu diesem Zeitpunkt so viele Bilder von dieser Produktion genommen und so viele davon über einen so langen Zeitraum so gut verkauft. Der Erfolg dieser Bilder war für mich sehr wichtig, weil ich mir nicht sicher war, ob mir Stockfotografie liegt.

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© Thomas Degen aka Tom Chance/Westend61

Sind die Briefings, die wir allen unseren Fotografen zur Verfügung stellen und die vielen Informationen innerhalb der Community für dich hilfreich?
Ja. Westend 61 macht das vorbildlich. Ich kenne keine Agentur, die in diesem Bereich mehr tut und ständig besser wird. Das ist eine ungewöhnlich dynamische Entwicklung, über die ich mich sehr freue.

Welches deiner Bilder, die du bei uns hast magst du am liebsten und warum?
Mit Superlativen tue ich mir generell schwer, aber es gibt eine Serie „Mutter und Tochter“ vom letzten Jahr, die ich besonders mag. Das hat auch damit zu tun, dass es eine sehr entspannte Produktion mit sehr netten Menschen in wunderschöner Umgebung und bei idealem Wetter war.

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© Thomas Degen aka Tom Chance/Westend61
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© Thomas Degen aka Tom Chance/Westend61

Ja, das ist auch meine Lieblingsserie von dir, die ist so schön emotional, die hat mich wirklich berührt. Aber kommen wir zur letzten Frage. Warum ist Westend61 die richtige Heimat für deine Bilder?
Westend61 war und ist für mich ein echter Glücksfall. Der Gerald und der Stephan waren mir von Anfang an sympathisch. Die Agentur hat sich über die Jahre sehr positiv entwickelt und tut das auch weiterhin. Ich arbeite noch mit einer anderen Bildagentur, aber über Westend 61 verkaufe ich meine Bilder am besten.

Lieber Thomas, vielen Dank für das Gespräch!

Gerald Staufer

Geschäftsführer von Westend61. Seit er mit 15 Jahren eine Canon AE-1 geschenkt bekam, ließ ihn die Fotografie nicht mehr richtig los. So war es wahrscheinlich kein Zufall, dass er nach einem Studium der Politikwissenschaften über kleine Umwege im Jahr 2003 eine Bildagentur gründete.